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Haushaltsrede am 9. Dezember 2014
Sehr geehrter Herr Bürgermeister Hess, sehr geehrte Amtsleiter, sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger, liebe Ratskolleginnen und -kollegen;
300 !
300 Jahre !
Über 300 Jahre geballte Ratserfahrung haben sich heute hier versammelt,
um den Haushalt 2015 zu verabschieden.
Dabei hat jeder und jede der um den Tisch versammelten im Durchschnitt an den Beratungen zu 12 Haushalten mitgewirkt.
Ich darf in diesem Jahr zum ersten Mal mitwirken. Fast erscheint es mir als anmaßend, hier mit zu entscheiden, die Rede zu halten - kann ich das? mache ich das richtig? Wo ecke ich an?
Seit Sommer bin ich neu in diesem Gremium, Ich fühle mich hier gut aufgenommen und danke allen dafür. Danke auch an den Briefträger, der regelmäßig die dicken Bündel Post und all die großen Umschläge vorbeibringt (werden die eigentlich mehrmals verwendet?).
Ich laufe seither mit anderem Blick durch die Stadt - habe z. B. ein schlechteres Gewissen als vorher, wenn ich, ohne die Ampel zu drücken, über den Lindenplatz laufe - ich grüße noch mehr Menschen als vorher - schaue, was fällt mir auf - wo sind Dinge zu Verbessern - was freut mich.
Von den dabei gemachten Beobachtungen will ich einiges ansprechen, nicht alles davon findet im "Haushalt" seinen Niederschlag - Aber, brauchen wir nicht, außer dem finanziellen Haushalt, einen inhaltlichen "Haushalt", eine längerfristige Planung der weiteren Entwicklung, von der wir uns leiten lassen, neben, vor und über den finanziellen Aspekten?
Was ist mir in den letzten Wochen begegnet?:
- Es gab schon viele spannende Gespräche, gute Anregungen,
- Es gibt viele freundliche Einladungen, die ich leider sehr häufig nicht annehmen kann;
- Es wird uns Räten vieles geboten: vom Besteigen der neuen Drehleiter, dem Vortrag in der Klosterkirche vor der Sitzung, bis zur Einweihung des Buchbinderzimmers im Museum. auch dafür vielen Dank!
Was ist mir aufgefallen?
- Beim Laufen auch über die Hochzeitswiesen sehe ich viele Bäume, die nicht abgeerntet, nicht geschnitten werden; ich suche hier noch die letzten Zwetschgen, um sie fürs Schnitzbrot zu dörren...
- Ich sehe eine ältere nicht sehr große Frau, die am Stadtgarten versucht, vom Boden aus, stehend einige Äpfel zu ernten;
- Die Schulstrasse ist saniert, gut, dass dabei die Randsteine abgesenkt wurden. Leider wurde die Chance verpasst, einen Rückbau und freundlicheres Erscheinungsbild mit der Sanierung zu verbinden (z.B. Fahrradstreifen, schmalere Strasse, anderes Parken. ) und so Ziele der Verkehrspolitik punktuell und beispielhaft, gewissermaßen zur Probe, umzusetzen;
- Nachdem die Sperrung der Schulstrasse aufgehoben wurde, fallen die schnellen Autos besonders auf; die fahren vermutlich grade 50 oder knapp darüber, es wirkt aber wie gerast;
- Über manches, was ich als Rätin erfahre und erlebe, bin ich - milde gesagt - erstaunt, so erhalte ich eine Menge Unterlagen, die nichtöffentlich vorbereitet, erstellt und beraten werden. Das hatte ich mir nicht so vorgestellt.
Einige Wahrnehmungen, die nicht neu sind, mir aber doch zu denken geben:
- Wenn ich zu meinen Kindern sage: "I gang end Schdadt", dann verstehen sie mich oft falsch, denn unter ,Stadt' verstehen sie Reutlingen;
Pfullingen, das ist das Städtle - Das Städtle hatte lange (und hat an manchen Stellen auch heute noch) dörflichen Charakter - ich erinnere mich
noch gut an die letzten holprigen Beläge in Klemmengasse und Grosser Heerstrasse, bevor sie glattgebügelt wurden
- jetzt gibt es nur noch eine Miste im ,Städtle'.
Finden wir die Balance im strukturellen Zwiespalt zwischen Städtle und Stadt? - Wir wollen eine Stadt sein, verhalten uns aber oft nicht so:
- Wir haben einen hohen Flächenverbrauch durch neue Einfamilienhausgebiete, die weit weg vom Stadtgeschehen liegen
- der Lindenplatz wirkt wie der zugeparkte Anger eines in die Jahre gekommenen Straßendorfs...
Wenn ich zu meinen Kindern sage: "I gang zom Eikaufa", dann meinen sie, dass ich Großeinkauf im Supermarkt mache, obwohl ich einen Großteil unseres täglichen Bedarfs hier im Ort abdecke. "Einkaufen" kann für verschiedene Leute ganz unterschiedliche Bedeutungen haben.
- Wir sehen alle, wie die kleinen Geschäfte viel Mühe haben und sich oft nicht halten können,
Bei der Veranstaltung des HGV in der FSG-Mensa vor ein paar Wochen war von einem Tischtennisschläger die Rede:
"Dieser Tischtennisschläger kann eben nur einmal, entweder bei Dekathlon oder im örtlichen Sportgeschäft gekauft werden"; (Da müssen wir froh sein, wenn sich dieses in Reutlingen noch halten kann.)
Aus dem Ganzen, was mir begegnet und auffällt entwickeln sich zunächst viele Fragen. Einige davon will ich hier anbringen:
Nach dieser Veranstaltung habe ich mich gefragt, ob der dort vorgestellte Ansatz nicht zu kurz greift.
- Wie viel Kaufkraft können wir wirklich im Ort halten oder über eine "Marke Pfullingen" hierher holen und dauerhaft binden? Ob es mit den üblichen Strategien gelingen wird? Welche anderen Wege könnte es geben?
- Was bedeutet städtisches Bauen ? - flächensparendes, ökologisches Bauen, Flächen sparen auch in Gewerbegebieten; kostengünstige auch größere Wohnungen für Leute mit weniger Geld, für Alleinerziehende, für junge Familien?
- wie werden wir unserer sozialen Verantwortung gerecht?, wie viele städtische Mietwohnungen streben wir an?
- Wie erreichen wir eine gute Durchmischung der Wohnquartiere in Bezug auf soziale Struktur und Altersstruktur
- Was können wir dazu beitragen den Charakter Pfullingens als Städtle zu erhalten, zu entwickeln und zu stärken? Den charmanten Charakter - den liebenswerten Charakter - überschaubar - kurze Wege ins Grüne - natürliche Vielfalt und Streuobstwiesen erhalten - sichere Fußwege - sichere Radwege.
Außerdem frage ich mich ganz besonders:
- Wie beziehen wir "normale" Bürger in Entscheidungsprozesse mit ein, Bürgerinnen und Bürger, die nicht so fest in Kirchen oder Vereinen eingebunden sind, aber dennoch hier leben und eine lebendige, bunte Stadt mitgestalten wollen? Wie beziehen wir deren Sachverstand, ihre Interessen und Bedürfnisse mit ein?
Diese Fragen will und kann ich nicht isoliert betrachten. Ich will diese auch nicht nur aus Sicht der Verwaltung oder unseres Gremiums beantwortet wissen. Hier geht es uns darum,
Wie kann eine gemeinsame Vision von Pfullingen 2030plus aussehen?
Wie kommen wir zu einer solchen Vision mit Leitbild und Zielen?
Eine gemeinsame Vision von Pfullingen in 15 (- 25 ) Jahren erreichen wir nicht in einer Klausurtagung des Gemeinderats. Dazu braucht es einen Prozess, der - gut vorbereitet und moderiert - alle Bevölkerungsteile, (nicht nur Vereinsvorstände oder Träger der Landesehrennadel), alle Altersgruppen, vor allem auch Jugendliche, junge Erwachsene und Kinder einbezieht, einen Prozess, der alle Themenbereiche aufnimmt (Verkehr, Wohnen, Arbeiten, Natur, Kultur..).
Wenn wir zuerst zuhören, was unsere Bürgerinnen und Bürger brauchen und wünschen, heißt das nicht, dass wir alles so machen werden, wie es einzelne unter ihnen wollen. Die Verantwortung der Entscheidung bleibt bei den Gremien der Stadt - (eine Entscheidungsfindung könnte dann in einer Klausur geschehen).
Aber die Prozesse, die zur Entscheidung führen, werden transparenter, also durchsichtiger, nachvollziehbarer.
Das sollte uns allen wichtig sein.
Und immer noch mehr Fragen:
Welche Rolle hat der GR als Gremium bzw. haben die Rätinnen und Räte? Verstehen sie sich als "Erfüllungsgehilfe" oder "Aufsichtsrat" der Verwaltung oder als "Sand im Getriebe" ?
Wie finden wir immer wieder die richtige Vorgehensweise - wie gelingt immer wieder neu die Balance zwischen Kontrolle, kritischem Nachfragen, eigenen Vorschlägen und Vertrauen bzw. ,Geschehen lassen'? Hier scheinen mir recht unterschiedliche Auffassungen zu bestehen. Ich verstehe es jedoch als meine / unsere Aufgabe als GR, so lange Fragen zu stellen, sich zu informieren und Klärungen herbeizuführen, bis ich mit gutem Gefühl entscheiden kann.
Ich frage mich, wieso ein so großer Teil der Beratungen nichtöffentlich erfolgt. Ist das wirklich nötig?
Ich denke, dass die nichtöffentlichen Beratungen auf das Notwendigste begrenzt sein sollten, wie es auch die Gemeindeordnung vorsieht. Vor allem nach nichtöffentlicher Vorberatung hat die Öffentlichkeit ein Recht darauf, die Auseinandersetzung, die Argumente und das Abwägen der Gesichtsichtpunkte nachvollziehen zu können und nicht nur das Ergebnis serviert zu bekommen.
Wie wäre z.B. die Ankunft und anfängliche Betreuung der kürzlich eingetroffenen Flüchtlinge gelaufen, wenn sich, gefördert durch frühe öffentliche Information schon ein Kreis von ehrenamtlichen Helfern gebildet
und in Absprache mit der Verwaltung in den Startlöchern gestanden hätte?
Was ich mir wünsche
Ich wünsche mir mehr interkommunale Zusammenarbeit z.B. bei der Hochwasserprävention oder beim Thema Schulen
- Herr Deh hat uns Neue in die Geheimnisse des Haushaltswesens eingeführt. Dazu gibt es sicher noch vieles zu lernen. Ich wünsche mir hier mehr und frühere Einflussmöglichkeiten des GR bei der Erstellung des Haushalts
- In unseren Gremien und im Umgang mit der Öffentlichkeit wünsche ich mir Offenheit auch gegenüber der anderen Meinung
und eine Haltung, die Anregungen und kritisches Fragen fördert.
Denn eine solche Haltung bringt uns gemeinsam weiter, und zwar weiter als die Haltung des "so haben wir das schon immer gemacht, das ist doch klar." - Ich wünsche mir, an einem Netzwerk Streuobst mitzuarbeiten:
- Das könnte zunächst heißen: Sammeln, was schon alles gemacht wird, darstellen, wer sich für den Erhalt der Wiesen engagiert
- dann heißt es hinzuschauen, wo Dinge fehlen - und schließlich auch neue Wege gehen vor allem in Bezug auf Information und Austausch (etwa ein Internetforum, Infos über Zeitung erreichen viele Leute nicht, Obstbörse,..).
- Sicher gibt es schon eine Fülle von Ideen
Ich wünsche mir, dass das Wort "Wohlfühlstadt" keine Inflation erfährt. Ich möchte es so wenig wie möglich benutzen. Wohlfühlstadt ist mir zu plüschig, zu behäbig, zu saturiert..Lieber hätte ich, wir würden daran arbeiten, eine faire Stadt zu sein:
- in den Ansätzen fairen Handels und bei fairen Grabsteinen sind schon einige Schritte gemacht;
Faire Stadt heißt aber auch
- fair zu sein bei Menschen, die nicht hier geboren sind, die zugezogen oder von weit her zu uns geflüchtet sind;
- fair zu sein gegenüber Leuten, die hier keinen Grundbesitz haben oder kein Eigenheim bauen wollen/können aber eine günstige größere Wohnung brauchen
- fair zu sein bei denen, die sich nicht in Vereinen binden wollen, sondern andere soziale Strukturen brauchen
- fair Verkehr zu planen für Menschen die zu Fuß, per Fahrrad, mit dem Kinderwagen, im Rollstuhl oder mit Rollator unterwegs sind;
- Inklusion weit zu denken,
Dank und Schluss
Viele Fragen und Wünsche, ...
Zum Schluss ein herzliches Dankeschön an Herrn BM Hess und seine Amtsleiter,
sowie an die Rats-Kolleginnen und Kollegen für die gute Zusammenarbeit.
Ein besonderer Dank an Herrn Deh und sein Team für die Ausarbeitung des Haushaltsplanes und für die im letzten Jahr meist vorhandene Liquidität der Stadtkasse. Möge dies auch zukünftig der Fall sein (Flasche mit Saft oder ...übergeben)
Im Namen der GAL-Fraktion bedanke ich mich ebenfalls ganz herzlich bei allen Bürgerinnen und Bürgern, die sich im vergangenen Jahr für die Stadt engagiert haben.
Danke fürs Zuhören.